Tage Alter Musik - Ein Stück Tradition im Ruhrgebiet

Die 47. Tage Alter Musik in Herne (9.-12.11.2023)

von Dr. phil. Ingo Negwer


Mit einem Deutschland-Debüt begannen am Donnerstagabend die 47. Tage Alter Musik in Herne. In der gut besuchten Kreuzkirche stellte sich die italienische Formation Anonima Frottolisti mit Musik aus dem Umkreis der Isabella d’Este (1474-1539) vor. Auf dem Programm standen Madrigale, Frottole, Chansons und Instrumentalmusik von Francesco Bossinensis, Josquin Desprez, Marco Cara, Bartolomeo Tromboncino u.v.a. Mit einem vielfältigen historischen Instrumentarium und abwechslungsreichen Arrangements sorgte das zehnköpfige Ensemble für einen unterhaltsamen Abend. Dabei traten neben Miriam Trevisan (Sopran) auch die Instrumentalisten Luca Piccioni (Laute), Emiliano Finucci (Viola da braccio), Simone Marcelli (Clavicytherium), Katerina Ghannudi (Harfe) und Jacob Mariani (Laute, Viola da arco) als Sänger hervor. Ein gelungener Festivalauftakt.


Anonima Frottolisti mit Miriam Trevisan (Sopran)
(Foto: Ingo Negwer)

Mit „À la française“ war das Konzert am Freitagnachmittag überschrieben. Das Ensemble Masques folgte in der Kreuzkirche den Spuren der französischen Musik, die im 17. und 18. Jahrhundert weit über die Grenzen Frankreichs großen Einfluss hatte. Unter der Leitung von Olivier Fortin (Cembalo) suchte man die italienischen Wurzeln des französischen Stils in der Sonata quarta sopra l’aria di Ruggiero von Salomone Rossi und in der Canzona francese cromatica von Giovanni Maria Trabaci. Originär französische Werke erklangen in Gestalt der sechs Entrées von Jean-Batiste Lully zu Francesco Cavallis Oper „Serse“ und mit Jean-Philippe Rameaus Suite aus „Les Indes galantes“. Georg Muffats Suite „Eusebia“ war ein Beispiel für die typisch deutsche Symbiose aus italienischem und französischem Stil, wie sie insbesondere Georg Philipp Telemann zur Vollendung geführt hat. Seine Ouvertüre B-Dur „La Bourse“ (Die Börse) eröffnete nach der Pause den zweiten Teil des Konzert. Den Schlusspunkt setzte das Ensemble Masques mit einer frühen reinen Streicherfassung der Ouvertüre Nr. 3 D-Dur von Johann Sebastian Bach. Insgesamt musizierten die neun Musikerinnen und Musiker mit stilgerechter Eleganz und ansprechender Transparenz. Allerdings fehlte insbesondere bei den „echten“ Franzosen die stilprägende Opulenz des Orchesterklangs, der in Paris gerade durch die üppige fünfstimmige Besetzung mit den „Vingt-quatre Violons du Roi“ erzeugt wurde.


Das Ensemble Masques
(Foto: Ingo Negwer)

Am Abend rückten Werke von Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart in den Fokus. Das exzellente Kammerorchester Basel, im Kulturzentrum vom Hammerflügel aus von Kristian Bezuidenhout geleitet, spielte eingangs Haydns Sinfonie Nr. 52 c-Moll. Anschließend war Bezuidenhout selbst der Solist in Mozarts „Jeunehomme“-Konzert Es-Dur für Klavier und Orchester. Abschluss und Höhepunkt des Abends war allerdings das fünfte Violinkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart. Hier brillierte Alina Ibragimova als Solistin und zog mit ihrem engagierten Spiel vom ersten Takt an Publikum und Orchester in ihren Bann. Zuvor erklang mit Troisieme Oeil eine Uraufführung des jungen Schweizer Komponisten Jannik Geiger (geb. 1985). In welchem Zusammenhang das 2023 entstandene Werk für 2 Oboen, 2 Hörner, Streicher und Bass zum übrigen Programm, geschweige denn zum Thema „Sturm und Drang“ stand, erschloss sich dem Rezensenten auch nach Lektüre des – wie immer – informativen Programmheftes nicht. Ganz offensichtlich sollte der Neuen Musik auch in einem Festival für Alte Musik mal wieder ein Türchen geöffnet werden.


Alina Ibragimova (Violine) und das Kammerorcherster Basel. Kristian Bezuidenhout (Leitung und Cembalo)
(Foto: Ingo Negwer)

Die Tür stand am Sonntagnachmittag beim live auf WDR 3 übertragenen Konzert des Freiburger Barockconsorts und des Ensembles Recherche „sperrangelweit“ offen, wobei das Motto „Tanz“ allenfalls in der barocken Musikauswahl seinen hörbaren Niederschlag fand. Ohnehin scheint es kein Zufall gewesen zu sein, dass das Barockconsort geradezu ein Hit-Potpourri barocker Werke präsentierte: Purcells Suite aus „The Married Beau“, Antonio Bertalis Cicccona C-Dur (wunderbar gespielt von Petra Müllejans), Vivaldis Sonata La Follia und Muffats Passacaglia G-Dur aus „Armonico Tributo“. Dazwischen gab es reichlich Raum für Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts, für deren Interpretation das Ensemble Recherche verantwortlich zeichnete. Nachdem man sich immer wieder neu auf den filigranen Klang der kammermusikalischen Barockwerke eingestellt hatte, forderte die Musik von David Lang (Burn Notice, 1988), Michael Gordon (The Light of the Dark, 2008), Guillaume Connesson (Techno Parade, 2002) und Donnacha Dennehy (Glamour Sleeper, 2003) das Gehör in der halligen Akustik der Kreuzkirche zum Teil auf geradezu schmerzhafte Weise heraus. Das hielt nicht alle Zuhörerinnen und Zuhörer auf ihren Plätzen. Dessen ungeachtet dankte das Publikum nach fast zwei Stunden pausenloser Musikdarbietung den Akteuren mit herzlichem Applaus.


Das Ensemble Recherche mit Anja Clift (Querflöte) und Shizuyo Oka (Klarinette) in Aktion
(Foto: Ingo Negwer)

Das Huelgas Ensemble ist auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung immer noch eine erste Adresse in der Alten Musik. Am Samstagnachmittag war es unter der Leitung seines Gründers Paul van Nevel in der Herner Kreuzkirche zu erleben. Die zwölf Sängerinnen und Sänger widmeten sich populären Melodien des 16. bis 19. Jahrhunderts und ihren kontrapunktischen Bearbeitungen – sogenannten „Parodien“. Volkslieder, wie zum Beispiel „Berzerette savoyens“ oder das berühmte „L’Homme armé“ wurden als Chansons bearbeitet oder bildeten die Grundlage von Messvertonungen, etwas bei Antoine Brumel oder Josquin Desprez. Max Reger arrangierte noch in der Spätromantik die Ballade von den zwei Königskindern für 4-5 Stimmen. Das Huelgas Ensemble interpretierte die ausgewählten Werke mit einer differenzierten Dynamik und ausgefeilten Klangregie.


Das Huelgas-Ensemble Recherche mit seinem Leiter und Gründer Paul van Nevel (Mitte)
(Foto: Ingo Negwer)

Auch 2023 bildete das barocke Musiktheater bei den Tagen Alter Musik in Herne mit zwei Opern wieder einen Festivalschwerpunkt. Am Samstagabend fand im Kulturzentrum eine verspätete Uraufführung der Oper „L’Ercole amante“ von Antonia Bembo statt. Die aus Venedig stammende, aber nach Paris ausgewanderte Komponistin (um 1640 – um 1720) schrieb die Oper im Jahre 1707 auf ein Libretto von Francesco Buti. Zur Hochzeit Ludwigs XIV. mit der spanischen Infantin Maria Teresa sollte „L’Ercole amante“ bereits 1660 in einer Vertonung von Francesco Cavalli aufgeführt werden. Erst zwei Jahre später kam sie – von Jean-Baptiste Lully umgearbeitet – auf die Bühne. Warum sich Antonia Bembo nach 45 Jahren noch einmal dieses Librettos annahm, ist ebenso wenig bekannt, wie eine etwaige Aufführung. Die mythologische Handlung ist, wie im Musiktheater jener Zeit nicht ungewöhnlich, trotz aller Verwicklungen und Verwirrungen recht übersichtlich: Ein alter Raufbold (Herkules) begehrt eine viel jüngere Frau und geht daran zugrunde. Kleingliedrige Nummern, bestehend aus Rezitativen, Arien und zahlreichen Duetten sowie instrumentalen Intermezzi und Tänzen sorgen für musikalische Kurzweil. In Herne erlebte die Oper vor allem dank eines durchweg überzeugenden Solistenensembles eine gefeierte Aufführung. Es sangen Florian Götz (Bass) als Ercole, Anita Rosati (Sopran) als Iole, David Tricou (Tenor) als Hyllo, Alena Dantcheva (Sopran) als Deinira, Flore van Meerssche (Sopran) als Giunone und Andrés Montilla-Acurero (Tenor) als Licco. Carine Tinney (Sopran) war in den Rollen der Venere und Pasitea, sowie Hans Forten (Bariton) als Nettuno und Ombra del Re Eurito zu erleben. Arnaud Gluck (Countertenor) – mit Fliege und in kurzer Hose – gab mit offenkundigem Spaß am halbszenischen Spiel den Paggio. Il Gusto Barocco unter der Leitung von Jörg Halubek sorgte nicht zuletzt dank eines reichen Basso continuo mit Cembalo, Orgel, Theorbe und Harfe für farbenreiche Orchesterklänge.

Zum Finale der Tage Alter Musik gab es eine wahre Festoper: Antonio Caldaras „Il Venceslao“, im Jahre 1725 am Wiener Hoftheater vor Kaiser VI. uraufgeführt. Wie schon beim „Ercole amante“ kann ich mir nähere Ausführungen zur „historischen“ Handlung um den polnischen König Wenzeslaus (der nie das Licht der Welt erblickt hatte) ersparen. Um so erwähnenswerter ist allerdings die vorzügliche Besetzung, die quasi keine Wünsche offen ließ. Gleich drei Countertenöre gaben sich die Ehre: Max Emanuel Cencic als Venceslao, Nicholas Tamagna als Casimiro und mit schier unglaublicher Sopranlage Dennis Orellana als Alessandro. Suzanne Jerosme (Sopran) sang die Lucinda, Sonja Runje (Mezzosopran) die Erenice, Stefan Sbonnik (Tenor) war als Ernando zu hören, Pavel Kudinov (Bass) als Gismondo. Sie alle sorgten mit virtuosen Arien und brillanten Kolloraturen für ein Fest der Stimmen. Ihnen stand das polnische {Oh!}Orkiestra unter der Leitung seiner Konzertmeisterin Martyna Pastuszka (Violine), das ich bereits bei den Tagen Alter Musik in Regensburg erleben durfte, als gleichwertiger Partner zur Seite.


Das Freiburger Barockconsort
(Foto: Ingo Negwer)

Häufig liegen die eigentlichen Highlights eher weniger beachtet am Rande. Und dennoch ist man anschließend glücklich, dabei gewesen zu sein. So wird es sicherlich den meisten Zuhörerinnen und Zuhörern ergangen sein, die zu nächtlicher Stunde am Samstag den Weg in die Flottmann-Hallen gefunden hatten, um der Musik des ausgehenden Mittelalters zu lauschen. In der besonderen Atmosphäre des Industriedenkmals mit seiner leider etwas trockenen Akustik ließ das Ensemble Leone vor seinem Publikum die reichhaltige Musikkultur am Hofe der Herzöge von Burgund wiedererstehen. Tessa Roos, Sabine Lutzenberger und Jacob Lawrence sangen mit leichten Stimmen Balladen, Rondeaus und Chansons von Gilles Binchois, Guillaume Dufay, Oswald von Wolkenstein u.a. In stets wechselnden Besetzungen wurden sie stilsicher von Elizabeth Rumsey (Viola d’Arco), Rui Stähelin (Plektrumlaute) und Marc Lewon (Plektrumlaute, Quinterne, Viola d’Arco) begleitet. Musik aus einer fernen Zeit, kompetent und kurzweilig dargeboten. Dieses Konzert hätte einige Zuschauer mehr verdient!


Das Ensemble Leones in den Flottmann-Hallen, v.l.n.r.: Rui Stähelin, Tessa Roos, Marc Lewon (verdeckt), Jacob Lawrence, Elizabeth Rumsey und Sabine Lutzenberger
(Foto: Ingo Negwer)

Ein weiterer Glanzpunkt der diesjährigen Tage Alter Musik war die Sonntags-Matinee mit Teodoro Baú (Viola da Gamba) und Andrea Buccarella (Cembalo). Im recht gut besuchten Kulturzentrum widmete sich das italienische Duo den drei Sonaten für Viola da Gamba und obligates Cembalo BWV 1027-1029 von Johann Sebastian Bach. Welch wundervolle Musik am Sonntagvormittag! Teodoro Baú spielte die anspruchsvollen Kompositionen aus dem „Herbst der Gambe“ mit feinem, warmen Ton. In vier Sätzen für Gambe solo von Carl Friedrich Abel aus dem Drexel-Manuskript zeigte er sich als technisch höchst versierter Gambist, der die Virtuosität aber stets in den Dienst der Musik stellte. Ihm zur Seite ließ Andrea Buccarella das Cembalo in Bachs Sonaten facettenreich und kantabel erklingen. Georg Friedrich Händels Chaconne G-Dur HWV 435 bot ihm schließlich Gelegenheit, als Solist hervorzutreten. Der große Saal des Kulturzentrums ist bekanntermaßen wenig für kammermusikalische Delikatessen geeignet. Dennoch gelang Baú und Buccarella ein geradezu berührendes Konzert mit ungeahnter Intimität, das allen sicherlich lange in Erinnerung bleiben wird.


Andrea Buccarella (Cembalo) und Teodoro Baú (Viola da Gamba)
(Foto: Ingo Negwer)

Insgesamt fällt auch dieses Jahr das Fazit der Tage Alter Musik in Herne ganz überwiegend positiv aus. An dieser Stelle gebührt dem Westdeutschen Rundfunk einmal ein ganz besonderer Dank, dass er inmitten des Ruhrgebiets dieses international renommierte Festival der historischen Aufführungspraxis in Zusammenarbeit mit der Stadt Herne seit fast fünf Jahrzehnten veranstaltet. Nach dem Einbruch durch die Corona-Pandemie hat sich auch der Publikumszuspruch wieder stabilisiert. Ja, es ist ein weitgehend älteres Publikum, das die Konzerte besucht. Aber ist das im Bereich der sogenannten „klassischen“ Musik nicht schon immer so gewesen? Unsere Gesellschaft wird insgesamt älter. Da bilden die Freunde der Alten Musik keine Ausnahme. Sicherlich sollte man Musik jenseits des Mainstreams auch jüngeren Menschen, Kindern und Jugendlichen allemal, näher bringen. Eine große Aufgabe für Musikerinnen und Musiker, Konzertveranstalter und Rundfunkanstalten. Aber ein älter werdendes Publikum zu begeistern, lohnt sich auch allemal. Weiter so! – Übrigens finden die 48. Tage Alter Musik in Herne vom 14. bis 17. November 2024 statt.


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