Musiktheater im Fokus

Die 46. Tage Alter Musik in Herne (10.-13.11.2022)

von Dr. phil. Ingo Negwer


In diesem Jahr widmeten sich die Tage Alter Musik in Herne vornehmlich dem Musiktheater und der musikalisch-literarischen Darstellung des weiten Spektrums menschlicher Gefühle. „Tragisch – komisch“ lautete das Motto der zehn Konzerte, die vom 10. bis 13. November im Kulturzentrum, in der Kreuzkirche und in der Künstlerzeche Unser Fritz 2/3 zu sehen und zu hören waren.

Zum Auftakt präsentierte das renommierte französische Mittelalterensemble Sequentia eine musikalische Fassung des „Roman de Fauvel“ aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der herrschaftskritischen Satire ergreift ein Pferd namens Fauvel die Macht im Staat. Korruption und Laster herrschen fortan allüberall. Fauvels Heiratsantrag an die Göttin Fortuna wird von dieser brüsk zurückgewiesen. Stattdessen empfiehlt sie ihm Vaine Gloire (zu deutsch: den eitlen Ruhm) als Gattin. Die Hochzeit wird mit einem großen Turnier zwischen den Lastern und den Tugenden gefeiert. Letztere erringen einen fragwürdigen Sieg. Die acht Sängerinnen von Sequentia bewegen sich auswendig singend, stilistisch kompetent durch die zumeist anonymen einstimmigen Gesänge, wissen auch in den polyphonen Motetten von Philipp de Vitry u.a. zu überzeugen. Ensembleleiter Benjamin Bagby führt als Sprecher am Rande der Bühne durch die Handlung. Nichtsdestotrotz litt das Programm an der weitgehenden musikalischen Einförmigkeit. Die Motetten bildeten da wohltuende Ausnahmen. Die eine oder andere instrumentale Klangfarbe hätte dem Ganzen sicherlich gut getan. So übertrug sich das die Bühne und Kostüme beherrschende Schwarz auch auf die Darbietung.

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Sequentia beim Eröffnungskonzert. Leitung und Sprecher: Benjamin Bagby (li.). Foto: Ingo Negwer

Welch anderer Eindruck bot sich am Freitagnachmittag in der Kreuzkirche! Keine abendfüllenden Opern, aber Arien und Cantaten mit durchaus musikdramatischem Anspruch schuf im 17. Jahrhundert die Komponistin und Sängerin Barbara Strozzi. Der Sopranist Federico Fiorio brachte einige dieser barocken Meisterwerke mit nach Herne, u.a. das Lamento „Lagrime mie“. Mit weicher, auch in den Höhen erstaunlich leichter Stimme zog Fiorio die Zuhörer in seinen Bann. In Strozzis Serenata „Hor che Apollo“ glänzte er zudem mit berückenden lyrischen Momenten. Auch in Antonio Cestis „Alpi nevose es dure“ und „Non si parli più d’amore“ wusste der junge Sänger mit dem seltenen Stimmfach zu begeistern. Begleitet wurde er von La Florida Capella unter der Leitung von Marian Polin (Cembalo). Das fünfköpfige Ensemble ergänzte das Programm mit Instrumentalwerken von Giovanni Battista Vitali, Giovanni Antonio Pandolfi Mealli, Maurizio Cazzati u.a. Dabei setzten sie weniger auf ruppig-virtuose Extravaganz als vielmehr auf Ausgewogenheit und Schönklang. In dieser Hinsicht konnte auch Alessandro Baldessarini mit einer Auswahl von Kompositionen Bernardo Gianoncellis für die Erzlaute (Arciliuto) überzeugen.

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La Florida Capella: Gabriele Toscani, Marco Kerschbaumer, Federico Fiori, Marian Polin, Luciano Nania, Alessandro Baldessarini. Foto: Ingo Negwer

Das geistliche Drama „Pia et fortis mulier“ in der Vertonung von Johann Caspar Kerll stand am Abend im Kulturzentrum auf dem Programm. Das am 24. Februar 1677 in Wien uraufgeführte Jesuitendrama handelt von der Geschichte des Märtyrerpaars Natalia und Adrian. Die Handlung ist dem heutigen Verständnis, gelinde gesagt, ziemlich entrückt und weckte in ihrer tragikomischen religiösen Naivität so manche Erinnerungen an Monty Python. Die hervorragenden Sängerinnen und Sänger der Capella Ducale und die gewohnt souverän aufspielende Musica Fiata ließen dessen ungeachtet musikalisch nur wenige Wünsche offen. Regina Münch (WDR) führte als Sprecherin durch die „fromme“ Handlung.

Geistliche Musik stand auch am Nachmittag des folgenden Tages im Mittelpunkt. Concerto Romano, 2009 erstmals bei den Tagen Alter Musik zu Gast, brachte dieses Mal römische Oratorien von Francesco Rossi („La caduta degli Angeli“) und Giacomo Carissimi („Historia divitis“) sowie eine geistliche Arie von Agostino Diruta und die Cantate „Le Parche“ von Bonifacio Graziani mit nach Herne. Das achtköpfige Vokalensemble und die sechs Instrumentalisten begeisterten mit einer geradezu opulenten und dennoch transparenten Klangfülle. Sängerinnen und Sänger waren sowohl solistisch als auch im Ensemble vorzüglich. Ein absolutes Highlight des diesjährigen Festivals!

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Concerto Romano in der Kreuzkirche. Leitung: Alessandro Quarto (Mitte). Foto: Ingo Negwer

Kennern und Liebhabern der Barockmusik ist Wilhelmine von Bayreuth keine Unbekannte. Die Schwester Friedrichs II. von Preußen, selbst eine ausgezeichnete Cembalistin und Lautenistin, heiratete 1731 den Markgrafen Friedrich von Bayreuth. In den folgenden Jahren lässt sie das oberfränkische Residenzstädtchen kulturell erblühen. Das unter ihrer Ägide errichtete Markgräfliche Opernhaus gehört heute zum Weltkulturerbe. 1754 wurde dort aus Anlass des Besuchs Friedrichs des Großen die Oper „L’Huomo“ uraufgeführt. Dem italienischen Libretto von Luigi Maria Stampiglia liegt Wilhelmines französische Dichtung „L’Homme“ zugrunde. Die Musik komponierte Andrea Bernasconi.

Die Blockflötistin und Dirigentin Dorothee Oberlinger hat das längst vergessene Werk nun aus dem Dornröschenschlaf erweckt und zusammen mit ihrem Ensemble 1700 in einer halbszenischen Aufführung auf die Bühne des Kulturzentrums gebracht. Philipp Mathmann (Sopran) sang in der Rolle des Anemone mit ansprechenden Höhen und maskulin anmutenden Registerwechseln. Maria Ladurner stand ihm als Anima mit auch in den Koloraturen lyrisch weichem Sopran zur Seite. Francesca Benitez füllte die Rolle des Buon Genio (Guter Geist) mit strahlendem, souveränem Sopran aus. Der Bariton Florian bildete als Cattivo Genio (Böser Geist) den dunklen Widerpart. Alice Lackner war leider erkrankt und daher als Negiorea (Vernunft) schweigend auf das gestische Spiel beschränkt. Ihre Rezitative wurden von den anderen Sängerinnen übernommen, ihre Arien von Oboe, Traversflöte und Fagott. In den weiteren Rollen wirkten mit: Simon Bode (Tenor) als Amor, Anna Herbst (Sopran) als Volusia und Johanna Falkinger (Sopran) als Incosia. Nils Niemann sorgte für die an historischen Vorbildern orientierte mimische und gestische Gestaltung unter Verwendung weniger Requisiten. Insgesamt gelang den Akteurinnen und Akteuren ein unterhaltsamer, kurzweiliger Opernabend auf höchstem Niveau – sicherlich ganz im ursprünglichen Sinne einer „Festa teatrale“.

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Maria Ladurna, Francesca Benitez, Anna Herbst, Johanna Falkinger (v.l.n.r.), Ensemble 1700, Leitung: Dorothee Oberlinger. Foto: Ingo Negwer

Das britische Vokalensemble I Fagiolini feierte am letzten Festivaltag in Herne sein Deutschland-Debüt mit Madrigalen aus Italien, England und Frankreich. Das Programm begann mit Kompositionen von Claudio Monteverdi, die die Facetten der Liebe mit großer Emotionalität ausleuchteten, so etwa in „Io son mi giovinetta“ die unschuldige Liebe oder in „Cruda Amarilli“ den Liebesschmerz. Das ist quasi Musiktheater en miniature. Madrigale mit ihren teils stereotypen arkadischen Themen wurden in der Spätrenaissance gerne persifliert. So trieb Adriano Banchieri in seinem „Contrapunto bestiale alla Mente“ den gelehrten Kontrapunkt mit Tierstimmen ins Groteske. In Giovanni Croces „Il Gioco dell’Occa“ vergnügen und ärgern sich die Protagonisten beim Würfelspiel. Und Orazio Vecchi lässt in seiner Madrigalkomödie „L’Amfiparnasso“ die komischen Figuren der Commedia dell’Arte zu Wort kommen. Rebecca Lea, Ailsa Campbell (Sopran), Martha McLorinan (Mezzosopran), Mathew Long und Michael Hundall Smith (Tenor) sowie Greg Skidmore (Bariton) und Charles Gibbs (Bass) kosteten diese vergnügliche Musik unter der Leitung von Robert Hollingworth (Countertenor und Cembalo) mit offenkundiger Spielfreude aus. Dass sie darüber hinaus auch stimmlich bestens aufgestellt sind, bewiesen sie nicht nur in den nachfolgenden melancholischen Madrigalen von John Wilby und Henry Purcell. Ein stilistisches Kontrastprogramm boten sie mit „Sacred and Profane“, acht kurzen Vokalsätzen auf mittelalterliche Texte, die Benjamin Britten 1975 komponiert hatte. Mit einer guten Prise Humor ging das Konzert der Fagiolini zu Ende. In Gestalt des Chanson „La Chasse“ von Clément Janequin veranstaltete man in der Kreuzkirche eine königliche musikalische Hirschjagd mit allerlei Hornsignalen, Hundegebell und Pferdegetrappel.

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I Fagiolini, Leitung: Robert Hollingworth (Mitte). Foto: Ingo Negwer

Zum Finale der Tage Alter Musik gab es im Kulturzentrum eine weitere konzertante Opernaufführung. Joseph Haydns Dramma pastorale giocosa „La Fedeltà Premiata“ wurde am 25. Februar 1781 in Schloss Esterháza anlässlich der Eröffnung des Opernhauses uraufgeführt. Das Libretto von Giambattista Lorenzino kam kurz zuvor bereits in Neapel in einer Vertonung von Domenico Cimarosa auf die Bühne. Die mythologische Handlung um das Liebespaar Celia und Fileno und einen bösen Fluch Dianas bietet jede Menge Gelegenheiten für Verwirrungen und Verwechselungen, ehe die Jagdgöttin dem Spuk am Schluss höchstpersönlich ein Ende setzt. Haydn hat das Ganze mit bemerkenswertem Gespür für die Charaktere und der ihm eigenen Portion Ironie in Musik gesetzt. So manches klingt schon deutlich an, was man an den späteren berühmten Opern von Mozart und Da Ponte zu schätzen weiß, insbesondere die ausladenden, quasi durchkomponierten Finali der drei Akte. In Herne gaben Sophie Harmsen (Celia), David Fischer (Fileno), Ylva Sofia Stenberg (Amaranta), Bruno Taddia (Conte Perruchetto), Karolina Bengtson (Nerina, Diana), Taejun Sun (Lindoro) und Daniel Ochoa (Melibeo) als Solisten sowie die glänzend aufgelegte Capella Augustina ein überzeugendes Plädoyer für diese Rarität aus der Feder Joseph Haydns ab. Die Gesamtleitung lag in den Händen von Andreas Spering.

Nach einem etwas holperigen Start hat der Westdeutsche Rundfunk in Kooperation mit der Stadt Herne wieder ein gelungenes Festival präsentiert. Erwähnenswert ist auch die kleine, aber feine Verkaufsausstellung im Foyer des Kulturzentrums, die endlich nicht mehr auf bestimmte Instrumente beschränkt, sondern offen für alle Instrumentenbauer und Musikalienhändler rund um die „Alte Musik“ war. Doch wie in so vielen anderen kulturellen Bereichen hat die Corona-Pandemie auch in Herne ihre Spuren hinterlassen. Leider war keines der von mir besuchten Konzerte ausverkauft. Aber hier ist sicherlich Geduld und viel Engagement der Verantwortlichen gefordert. Seien wir also gespannt auf 2023! Die 47. Tage Alter Musik in Herne finden vom 9. bis 12. November statt. Das Motto lautet dann „Mode und Stil“.


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